Frau beim Bosseln auf der Straße in Emden/Ostfriesland
Valeska Löns
ECHTES WINTERVERGNÜGEN

Boßeln in Ostfriesland

„Wir gehen Boßeln mit der ganzen Familie“, freute sich Marleen schon Wochen im Vorfeld. „Scheint wohl echt ein großes Ding zu sein“, hatte ich gedacht und bin erst mal in die Recherche gegangen. B-O-ß-E-L-N tippe ich auf meine Tastatur. Wikipedia sagt mir: Boßeln ist eine Sportart, die in unterschiedlichen Formen in verschiedenen Teilen Europas gespielt wird. Ziel des Spiels ist es, eine Kugel mit möglichst wenigen Würfen über eine festgelegte Strecke zu werfen. Aha. Hört sich ja easy an. Fast schon etwas langweilig. Aber irgendwas muss ja dahinterstecken, wenn meine Freundin schon beim Gedanken ans Boßeln in Ostfriesland so überschwänglich wird.

Auf geht die Tour: Münster – Emden

Von Münster geht es dann mit der RE15 direkt nach Emden. Nach zweieinhalb Stunden gemütlicher Fahrt am Hauptbahnhof angekommen, werde ich auch schon von meiner Freundin und strahlendem Sonnenschein in Empfang genommen. Wir laufen nur wenige Meter, um uns in den Bus 4 zu setzen, der uns in gerade einmal 18 Minuten Fahrt zur Station „Uphuser Meer“ bringt. Insider-Tipp: Geht nicht erst in letzter Minute zum Bus. In Emden fahren die BusfahrerInnen auch gerne etwas früher ab, wenn sie meinen, da kommt niemand mehr.

Es ist schon verrückt: Gerade noch fährt man durch die kleine Seehafenstadt und zack – bist du umgeben von Weiden und Weite. Außerdem verrückt: Gerade noch schien die Sonne und schon sehe ich am Horizont sehr dunkle Wolken aufziehen. „Ach, mach dir mal keine Sorgen. Die ziehen so längs an uns vorbei“, prophezeit Marleen. Sehr optimistisch diese Ostfriesen. An der Station angekommen, stehen auch schon Onkel, Tanten, Eltern und Freunde von Marleen bereit. Boßeln ist nämlich ein Sport für die ganze Familie! Einzige Voraussetzung ist, dass man halbwegs mobil ist. Wobei – selbst Onkel Robert hatte gerade erst eine Knie-OP überstanden und ist die 6 km lange Strecke trotzdem mitgelaufen. Boßeln in Ostfriesland lässt man sich halt nicht entgehen!

Bollerwagen und Boßelkugel
Valeska Löns

Ohne dieses Equipment geht´s nicht: Boßelkugel und Bollerwagen

Boßeln – wie geht das?

Bevor wir loslaufen, gibt es für mich Newbie eine kurze Übersicht zu den Regeln:

  • Es gibt zwei Teams, bestehend mindestens aus je vier TeilnehmerInnen – so sagt es das Regelhandbuch. Ich würde ja behaupten, dass man es auch mit zwei gegen zwei spielen könnte, aber hey – keiner legt sich mit Ostfriesen an.
  • Es wird eine Holz- oder Gummikugel mit einem Durchmesser von ca. 9 bis 12 cm Durchmesser verwendet und die wird mit Schwung über die Straße gerollt – wer schon einmal Kegeln war, wird sich hier erinnert fühlen.
  • Ziel ist es, mit möglichst wenigen Würfen die Strecke zu schaffen.
  • Die Teams werfen nacheinander im Wechsel.
  • Wenn derjeniege, der die zweite Kugel wirft, die erst geworfene Kugel des gegnerischen Teams nicht überholt, wird laut „Schköööl“ gerufen und alle müssen einen Schnaps trinken (ich bin mir unsicher, ob dies eine offizielle oder nur die interne Regel von Marleens Familie ist).

Equipment: Ganz klar, zwei Boßelkugeln oder am besten drei, damit ihr gleich eine im Petto habt, wenn eine flöten geht. Zum Boßeln werden sich meist Wege ausgesucht, die ländlicher gelegen sind – damit nicht ständig das Spiel unterbrochen werden muss – und dort ist auch gerne ein Schloot entlang des Wegesrandes vorhanden, in den die Kugel dann abtaucht, wenn man nicht ganz zielsicher ist. Keine Sorge! Um die wiederzufinden, gibt es extra den „Grabber“. (Komisches Wort, habe ich auch gedacht.) Stell dir einen Besenstiel mit Metallkorb am Ende vor. Der hilft dabei, im Sumpf nach der Kugel zu suchen – viel Fingerspitzengefühl ist hier gefragt. Glaub mir, ich durfte mich eine Viertelstunde damit beschäftigen. Außerdem braucht man zum Boßeln in Ostfriesland für jede Tour einen Bollerwagen, damit die Gesellschaft mit ausreichend Snacks und Getränken versorgt ist. Gerne wird auch eine Musikbox mitgenommen, um die gute Stimmung noch schwungvoller zu gestalten.

Boßeln in Ostfriesland: Laufen, trinken, werfen, und wieder von vorn

Die Hochsaison ist von Oktober bis März. Marleens Familie trifft sich jedes Jahr am zweiten Februar-Wochenende – eine Tradition, die sich in vielen ostfriesischen Familien und Freundeskreisen wiederfindet, wie ich mir sagen lasse. Unser Weg führt uns einmal um das Uphuser Meer. Das Ziel: Endjers Landhaus.

Wir laufen los und Vater Bernd wirft als erstes. Alle schauen gebannt auf die Kugel. Nach circa 50 Metern dreht die Kugel nach rechts und landet in einer dicken Pfütze. „Heeeeey, das war super Bernd“, feuert seine Frau Dagmar an. Das zweite Team ist dran, in dem auch ich bin. Es gibt Team blau und gelb. Erkennbar an den entsprechend farbigen Wäscheklammern, die uns Dagmar angeklemmt hat. Den Start macht Marleens Bruder Mike. Ich soll erst etwas später drankommen, damit ich mich warmlaufen und lernen kann. Das Sport-Event wird schon ernst genommen. Mike hat so einen Schwung drauf, dass seine Kugel locker an der von Bernd vorbei saust und erst ca. 20 Meter dahinter zum Stehen kommt. Wir spazieren gemütlich mit dem Bollerwagen hinter den Kugeln her. Da, wo die Kugel liegt, nimmt der nächste die Kugel auf und wirft sie weiter. Als ich dran bin, merke ich, wie die ersten Tropfen vom Himmel kommen. Bernd sieht meinen Blick und sagt „Nun guck mal nich so! Das bisschen Regen macht doch nichts!“ Den Ostfriesen macht man so leicht nichts vor. Ich nehme ein paar Schritte Anlauf, werfe die Kugel und heeeey – sie roooollt die Straße entlang und diiiiirekt in den Graben. Na klasse. Aber kein Problem! Wir haben ja den Grabber und so kommen wir zu dem Part, in dem ich 15 Minuten brauche, um die Kugel aus dem Sumpf zu fischen. Der Regen wird stärker. Doch es scheint niemanden zu kümmern – sind ja alle professionell ausgestattet: Dicke Jacken mit Kapuze, Wollsocken, Boots – ja, auch der lange Hinnie kommt hier zum Einsatz. (Für alle, die den Begriff nicht kennen: Das ist eine lange Unterhose.)

Es wird geplaudert, Bierchen getrunken und der Regen ignoriert. Um uns herum nur Felder, Kühe und ein paar Hasen. Die Windräder bewegen sich langsam. Herrlich. Doch als dann der Hagel auf uns fällt, kommen auch Bernd und die anderen ins Laufen. „Kommt schnell, wir stellen uns beim Bauernhof unter!“ Alle nehmen ihre Beine in die Hände. Und als wir da so stehen und die Nässe meine Jeans hochläuft, kommt die Frage: „Na, wer will denn einen Glühwein?“. Beim Boßeln in Ostfriesland wird an alles gedacht! Nach einigen Minuten ist der Hagelschauer vorbeigezogen und wir setzen uns wieder in Bewegung. Wir sind bei Durchgang 5 angekommen und ich verbessere mich von Mal zu Mal – ich bekomme auch bei jedem Wurf gute Ratschläge. So stellt Bernd sich zum Beispiel einige Meter entfernt breitbeinig hin und ruft: „Durch meine Beineeee!“ Hilft tatsächlich, um die Richtung im Blick zu haben. So geht es immer weiter, bis ein heftiger Regenschauer kommt. Keine Unterstellmöglichkeit weit und breit in Sicht. Aber zum Glück sind wir schon fast bei „Endjers“ angekommen und so laufen wir schnellen Schrittes die letzten 300 Meter zum Restaurant. Endstand: 9:9 „Verlierer gibt es bei uns nicht“, erklärt Bernd.

Boßelstrecke in Emden und Schild von Endjers Restaurant
Valeska Löns

Endjers Landhaus: Perfekt gelegen für alle Boßelfreunde

Deftige Küche zum Warmwerden

Wir betreten das Landhaus „Endjers“. Fantastisch! Es ist so urig und gemütlich. Die perfekte Location, um sich vom Boßeln und den Wetterstrapazen zu erholen. Mittlerweile sind nämlich auch die langen Hinnies durchnässt und bei gerade einmal 4 Grad Celsius wird das dann doch etwas unangenehm. Bei Endjers ist schon alles vorbereitet: Der Tisch ist eingedeckt und wir dürfen uns direkt setzen. Marleens Familie hat das Grünkohlessen schon vorbestellt. Das ist nötig, wie ich feststelle, denn nach und nach kommen immer mehr Menschen in das Landhaus geströmt, um sich aufzuwärmen und das leckere Essen zu genießen. Passend zur Jahreszeit gibt es Grünkohl mit Bratkartoffeln, Pinkel und Kassler. Wer vegan lebt, darf sich auf hausgemachte Erbsensuppe freuen! Und natürlich: Einen Korn gibt´s auch dazu. Prost, ihr Lieben! Boßeln in Ostfriesland ist mein neues Hobby!

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